Verbinden und Abwenden
Im ersten Satz von Beethovens fünfter Sinfonie erhebt sich für einen kurzen Moment eine einsame Oboenstimme, die vielfach als Sinnbild für den Kontrast zwischen Individuum und Gesellschaft aufgefasst wird. In ihrem Stück „Verbinden und Abwenden“ wendet die türkischstämmige Komponistin Zeynep Gedizlioğlu eine ähnliche Rollenverteilung auf das Verhältnis von Ensemble und Orchester an. Sie ist allerdings nicht an dem schlichten Kontrast von transparentem Ensemble- und fülligem Orchesterklang interessiert. Stattdessen postiert sie die Ensembleinstrumente mitten im Orchester, und zwar in „fremde“ Klanggruppen. So sitzt die Bassklarinette zwischen den Ersten Violinen, die Ensemble-Violine wiederum hinter der Orchester-Tuba. Zwar werden diese verteilten Ensembleinstrumente dezent verstärkt. Ob man sie tatsächlich als „Fremdkörper“ wahrnimmt, bleibe aber dahingestellt. Wichtig ist Gedizlioğlu zudem noch eine andere Konnotation. „Die Vorstellung von einer Gruppe – in diesem Fall bestehend aus 14 Individuen -, die dem großen Apparat Orchester gegenübersteht, bringt für mich in erster Linie etwas Politisches mit sich, und gleichzeitig den Impuls, die permanente Eindeutigkeit einer bestimmten Rollenverteilung, eines bestimmten Verhältnisses zwischen den zwei Klangkörpern abzulehnen.“ Das klingt alles ein bisschen wie der Versuch, die dialektische Philosophie der Frankfurter Schule zu vertonen. Doch bekanntlich sind Kommentare von Komponisten zu ihrer eigenen Musik nicht immer ein Schlüssel zu ihren Werken. Hört man nun in die Komposition hinein, so begegnet man einer sehr sinnlichen, energetischen, gestenreichen Musik, die turbulent, schillernd, gleichzeitig aber minutiös ausgehört wirkt. Drei Sätze hat das Werk, von der Komponistin als „drei Akte“ bezeichnet. Eine imaginäre Bühne ist also mit im Spiel, Instrumente setzen sich in Szene, parlieren, poltern, schleichen sich ein oder fallen mit der Tür ins Haus. An einer Stelle gibt das Orchester sein eigenes Publikum und feiert sich mit Bravorufen. Jenseits solcher Theatralik sorgt Gedizlioğlu auf der Mikroebene für Zusammenhalt, den Dirk Wieschollek im seinem lesenswerten Booklettext als „Greifen nach dem Ungreifbaren“ beschreibt: „Gestalten verfestigen sich, Konturen zeichnen sich ab, oft in unmerklichen Varianten oder Verschiebungen des schon Dagewesenen, und verschwinden wieder.“ Die vorliegende Porträt-CD (in der Wergo-Reihe „Edition zeitgenössische Musik“) vermittelt ein differenziertes Bild vom Schaffen der mehrfach preisgekrönten Komponistin, die aus Izmir stammt und in Deutschland unter anderem bei Theo Brandmüller und Wolfgang Rihm studiert hat. In „Sights of now“ für zwei Klaviere und Streichquartett arbeitet sie sehr konsequent mit scharf umrissenen Gesten und abrupten Wendungen, „Kelimeler“ (Worte) für fünf Vokalisten kreist um die Assoziationsfelder „Stimme“ und „Dunkelheit“ und bedient alle Register der zeitgenössischen Vokalkunst zwischen betörender Vokalise und Durcheinanderplappern. Außerdem auf der CD: das Ensemblestück „Jetzt – mit meiner linken Hand“, und „Blick des Abwesenden“ für Klavier und Orchester. Excellente Interpreten und eine fabelhafte Aufnahmetechnik sorgen für ungetrübten Hörgenuss. Mathias Nofze
Zeynep Gedizlioğlu: Verbinden und Abwenden. Kammermusik. Klavierduo Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi/Quator Diotima/Klangforum Wien, Ltg. Leonhard Garms/Ensemble Modern/hr-Sinfonieorchester, Ltg. Ilan Volkov bzw. Jonathan Stockhammer/Neue Vocalsolisten Stuttgart/Tamara Stefanovich (Klavier). Wergo WER 6428 2