Beethovens Neunte Sinfonie. Längst mehr Mythos als Musik. Freude, Europa, Frieden kleben als Stichworte an ihrer Stirn. Dabei plante der Meister selbst noch eine weitere Sinfonie. Wann, wenn nicht in 2020, dem magischen Beethovenannum, wäre die Gelegenheit, Beethovens Zehnte aufzuführen? Doch dafür müsste sie rekonstruiert werden. Die Deutsche Telekom hat sich diesen verwegenen Plan in den Kopf gesetzt und eine Taskforce eingesetzt. Deren Mission: Komplettierung der Zehnten Sinfonie bis zur Aufführungsreife. Eine 6-köpfige Gruppe aus IT-Spezialisten und Musikwissenschaftlern, koordiniert von Matthias Röder von der Salzburger Unternehmensberatung „The Mindshift“, arbeitet schon seit einigen Monaten daran. Auf der Grundlage von sehr wenig – flüchtig hingeworfenen Skizzen, mal ein paar Töne, mal eine Überleitungspartie, mal eine kurze Melodie – soll also sehr viel – eine ganze Sinfonie erahnt werden. Antike Städte werden ja auch anhand von ein paar Mauerresten virtuell „nachgebaut“.
Am Anfang steht ein junger Mann im Anatomiesaal, das Sezierbesteck in Händen, und schmettert eine Opernarie. Wie es dazu kam, beschreibt Volker Hagedorn im ersten Kapitel seines Buches „Der Klang von Paris“. Der junge Mann ist Hector Berlioz, der 1821 In Paris ein Medizinstudium aufnimmt und damit dem Drängen seines Vaters folgt. Die Leidenschaft des jungen Mannes jedoch gehört der Musik, schon als Jugendlicher hat er kleine Stücke komponiert. In der französischen Hauptstadt hört Berlioz die erste Oper seines Lebens: „Les Danaїdes“ von Antonio Salieri. Das Werk ist damals schon knapp vierzig Jahre alt, doch versetzt es Berlioz in rauschhafte Begeisterung. Und so kommt es, dass er im eisigen Anatomiesaal steht und aus voller Kehle die Arie „Jouissez du destin propice“ singt, während er einen Schädel aufsägt. (weiterlesen auf Seite 2)
Die „Zauberflöte“, „Hänsel und Gretel“, „Tosca“ und „La Traviata“ waren die vier am häufigsten aufgeführten Opern in Deutschland in der Saison 2017/18. Die fünfte und neunte Sinfonie von Beethoven oder Schuberts „Unvollendete“ dürften in der Sparte Sinfonik die Platzhirsche sein. Auch in den übrigen Gattungen dominiert ein mehr oder weniger unveränderliches Kernrepertoire das Konzertleben. Frédéric Döhl, Strategiereferent für Digital Humanities an der Deutschen Nationalbibliothek und Musikwissenschafts-Dozent an den Universitäten Dortmund und Berlin, nennt diese Kanonbildung eine „an Markennamen orientierte Musikgeschichte“. Und hat sich auf die Suche nach einer Alternative gemacht.