Arien in der Anatomie
Eine geradezu filmreife Szene ist das, ein Einstieg, der auch einen historischen Kriminalroman eröffnen könnte. Das Ganze hat sich Hagedorn aber nicht ausgedacht, sondern aus Berlioz‘ Memoiren übernommen. Den Schöpfer der „Symphonie fantastique“ hat sich Hagedorn als Protagonisten auserkoren, der den Leser in das Paris zwischen 1821 und 1867 führt. In dieser Zeit stieg die Stadt zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ auf, so Walter Benjamin in seinem „Passagenwerk“. Doch der habe dabei Musiker und Musik in der Stadt weitgehend „ignoriert“, kritisiert Hagedorn in der Nachbemerkung. Dabei seien diese „Seismographen ihrer Zeit nicht weniger als die Literaten“.
Das zu verdeutlichen, gelingt Hagedorn, dessen Buch „Bachs Welt“ bereits die Fachwelt begeisterte, erneut auf fesselnde Weise. Die rund 350 Seiten bieten eine Mischung aus Künstlerroman, Sozial-, Kultur- und Musikgeschichte der Stadt Paris sowie aus reportagehaften Elementen, in denen er in das Paris von heute springt – das Buch taugt auch als Stadtführer. Die Wechsel der Ebenen gelingen ihm elegant, was das Lesen zu einer kurzweiligen Angelegenheit macht, amüsant und lehrreich. Hagedorn schreibt mit leichter Hand, aber nie oberflächlich, sein Stil hat Schwung, mehr als das, nämlich oft auch Poesie. Respekt nötigt seine Kunst ab, Musik schwärmerisch zu beschreiben, ohne je in Kitsch zu verfallen. Gleichzeitig verliert er nie die Bodenhaftung im historischen Detail; der umfangreiche Anmerkungsapparat legt Zeugnis davon ab.
Zu Beginn reist der junge Berlioz mit der Kutsche nach Paris, am Ende, 1867, mit dem Zug, ein Sinnbild für den enormen technischen Fortschritt, der gerade in der Metropole an der Seine am prägnantesten zu beobachten ist. Doch zoomt der Autor in den sieben Kapiteln immer wieder auch andere Figuren heran: Liszt, Chopin und George Sand vor dem Hintergrund der großen Choleraepidemie 1832, den jungen Wagner und Heine, zusammen Austern schlürfend, während man Bestürzendes über die zunehmende Armut in der Stadt erfährt, Rossini in den Umwälzungen des Second Empire, den Fotografen und Erfindergeist Nadar, der inmitten der „Kaiserdämmerung“ Napoleons III. den größten Heißluftballon der Welt verwirklicht. Wie der dann in Rethem zwischen Bremen und Hannover abstürzt, ist erneut filmreif. Fazit: lesen und dann auf nach Paris. Mathias Nofze
Volker Hagedorn. Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts. Rowohlt, Reinbek 2019, 416 S., 25,- Euro.
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