„Schöne Stellen“ in Klavierquintetten

Er tut dies am Beispiel des Klavierquintetts, einer Gattung, die ihn seit rund 25 Jahren fasziniert. Döhl zufolge ist im Fall des Klavierquintetts der Hiatus zwischen der Menge an verfügbarem Material – rund 1000 Werke sind wissenschaftlich erfasst – und dem, was es davon in die öffentliche Wahrnehmung schafft, besonders breit. „Ungeachtet der Überfülle an verfügbaren Werken und (…)  Tonaufnahmen“ und „trotz einer enormen Breite an vergleichbarer musikalischer Qualität: Besprochen, ediert, aufgenommen, aufgeführt, ja wahrgenommen sieht man in den Leitmedien Klassischer Musik nur Franz Schuberts „Forellenquintett“ (das schon seiner Besetzung mit Kontrabass wegen noch gar nicht recht zur Gattung gehört), Robert Schumanns op.44 in Es-Dur, Johannes Brahms‘ op. 34 in f-moll, Antonín Dvoraks op. 81 in A-Dur und schließlich Dmitri Schostakowitschs op. 57 in g-moll.“ Das sind die „Big Five“ der Gattung Klavierquintett, deren Vorrangstellung Döhl in vier Sektoren des Musikwesens anhand von ausgedehnten Stichproben untersucht hat: Tonträgermarkt, Konzertwesen, Musikliteratur und Musikjournalismus. Selbst das niedrigschwellige Angebot von Youtube oder Streamingdiensten ändert nichts am Kanon der Gattung Klavierquintett. Dabei ist die Fülle unbekannter Klavierquintette gerade dank digitaler Medien relativ leicht aufzuspüren. Anhand dieses Befundes stellt Döhl die Frage, die man an jeden Kanon richten kann: ist er ein Ausweis von Qualität? Im Fall des Klavierquintetts jedenfalls scheint für ihn „das Missverhältnis zwischen Qualität und Aufmerksamkeit (…)  geradezu eklatant.“.

Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich für den Autor eine „persönlich kuratierte“  Musikgeschichte an, die sich nicht am Mainstream orientiert, sich aber auch weder der algorithmischen Logik von Zufallslisten noch den scheinbar objektiven Verfahren des „Data mining“ der Digital Humanities überlassen will. Döhls Auswahlkriterium ist der „emotional impact“, eine Kategorie, die der amerikanische Kantspezialist Paul Guyer entwickelt hat. Mit sehr differenzierten, wohltuend abwägenden Überlegungen gelangt Döhl zu einer Art Ästhetik „schöner Stellen“, die unter anderem auch Gedanken über das „Sprechen über Musik“ enthält. 67 „schöne Stellen“ aus Klavierquintetten, sein persönliches „Mixtape“, stellt Döhl am Schluss des Buches vor. Man lernt Komponisten wie Georgy Catoire, Giovanni Sgambati oder Jean Huré kennen. Nie gehört? Dann wird es Zeit. Döhls Buch wird jeder mit Gewinn lesen, der über Musik im Zeitalter ihrer virtuellen Omnipräsenz vertieft nachdenken will. Mathias Nofze

Frédéric Döhl. Musikgeschichte ohne Markennamen. Soziologie und Ästhetik des Klavierquintetts. Transcript, Bielefeld 2019. 241 S., 29,99 Euro. 

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